Die Welt von nirgendwo

Die Frage nach der Wirklichkeit der Wirklichkeit, die sich Hubert Dreyfus und Charles Taylor in ihrem neuen Buch „Die Wiedergewinnung des Realismus“ stellen, thematisiert ein altes, traditionsschwangeres Problem. Zu vorläufigen Beantwortung mit weit reichenden Folgen für das moderne Denken kam es mit René Descartes‘ Dualismus von Materie und Geist. Er beantwortete sie mit durchaus strategischem Blick auf die Nützlichkeit der wissenschaftlichen Methode: Unsere Begriffe seien nicht identisch mit der Wirklichkeit; ihre Wahrheit könne nur durch wissenschaftliche Überprüfung der Kluft erwiesen werden. Die Vorstellung vom „desengagierten“ Blick, einer von subjektiven Eindrücken gereinigten Erkenntnis der „Welt von nirgendwo“, prägt seither unser Bild von uns und der Welt. Wir zweifeln, ob die Welt „da draußen“ wirklich so ist, wie wir sie uns „hier drinnen“ (in unseren Köpfen) scheint. Diesen Zweifel methodisch an sein Ende treibend, erhoffen wir uns ein Fundament sicherer Erkenntnis und den maximalen Nutzen praktischer Wissenschaftlichkeit.

Doch schon Descartes habe übersehen, so die Autoren, dass das endlos zweifelnde Ich nicht schon darauf verweist, dass der Grund sicheren Wissens bereits erreicht ist. Es ist vielmehr immer noch Untersuchungsobjekt seines eigenen Denkens, das stets intentional ist und sich selbst als Denkendem niemals in den Blick kommt. Seine Wahrnehmung ist immer schon eingebettet in einen Erkenntnishorizont und daher Ergebnis einer tätigen Verhältnissetzung zwischen Ich und Welt und mitnichten „desengagiert“: „Mein erstes Verständnis der Wirklichkeit ist kein Bild, das ich mir von ihr mache, sondern der Sinn, den ich dem fortwährenden Austausch mit dieser Wirklichkeit verleihe“. Bewusstsein ist also folglich nicht im Gehirn beschlossen, sondern besteht in einem dynamischen Wechselverhältnis von Ich und Welt.

Dreyfus und Taylor vertreten einen kritischen Realismus: Ja, ein Zugang zur Welt ist möglich. Ihnen liegen vor allem die gesellschaftliche Folgen von Descartes‘ Paradigma am Herzen, mit dem unausweichlich ein normatives Bild vom Menschen verbunden ist, das seinen Niederschlag in unrichtigen technischen Analogismen findet. Die Zweckrationalität der Interpretation, dass die Welt für uns in eindeutig voneinander trennbare Wahrnehmungsbruchstücke zerfällt, die vom Gehirn bearbeitet würden und dann zu eindeutigen „Outputs“ führten, begründe zwar die Leistungsfähigkeit der praktischen Naturwissenschaften, gebe aber zugleich unserem Bedürfnis nach Kontrolle Ausdruck. Sie transformiere zunehmend auch zwischenmenschliche Beziehungen, beispielsweise durch eine allgemeine Abwertung des Gefühls als einer bloß inneren Empfindung ohne äußeres Korrelat und damit ohne Anspruch auf objektive Relevanz, wie sich an gesellschaftlichen Debatten von Pegida bis zur Geschlechtergerechtigkeit zeigt.

Diese Argumentation klingt vertraut, denn Rudolf Steiners Blickwinkel ist derselbe. Seine Kritik wird jedoch häufig auf eine rigorose Ablehnung jedweder begrifflicher Erkenntnis reduziert. Dreyfus und Taylor erinnern daran, dass dies kein gangbarer Weg sein kann. Denn auch wenn wir Descartes dualistische Spaltung zurückweisen, erleben wir die Welt meist intentional, z.B. wenn wir etwas erkennen oder über es nachdenken. Abstrakte Begriffe zu bilden gehört zum Menschsein und begründet unsere Gesellschaftsfähigkeit. Wir können daher nicht hoffen, durch ihre Zurückweisung zum „Wesentlichen“ zurückzufinden.

Deshalb schlagen die Autoren einen pluralistischen Realismus vor, der auch gesellschaftliche Tragfähigkeit beabsichtigt. Dieser soziale Enthusiasmus ist es, der das Buch besonders lesenswert macht: Dreyfus und Taylor unterstreichen, dass mit einer Kritik vermittlungsorientierter Interpretationen der Welt eine Stärkung der gesellschaftlichen Subjekte einher geht, als die wir uns in der Folge wiederentdecken, einen Schritt, den übrigens auch Steiner macht. Denn wenn die naturwissenschaftliche „Fundamentalbegründung“ unerreichbar scheint, wächst die Bedeutung der unerschöpflichen Verbundenheit allen Lebens. Die Autoren versuchen den gewagten Schritt einer Rettung des wissenschaftlichen Projekts durch die Anerkennung einer erkenntnisunabhängigen Wirklichkeit, während sie zugleich vielfältige Beschreibungsweisen akzeptieren. So mag Akupunktur naturwissenschaftlich nicht verständlich erscheinen. Sie könne jedoch eine Wirklichkeit beschreiben, die tatsächlich „vorhanden“ ist.

Der gesellschaftliche Existenzmodus dieses Realismus ist der Dialog als ihr undogmatischer Vermittler. Auch hier harmonieren die Autoren mit Rudolf Steiner. Sie berufen sich selbst auf Hans-Georg Gadamers Konzept der „Horizontverschmelzung“: während in den Naturwissenschaften Wahr-Falsch-Dichotomien über Wirklichkeit entscheiden, verschmelzen im zwischenmenschlichen Raum Horizonte individueller Wahrnehmung im Gespräch.

Das Buch von Dreyfus und Taylor ist lesenswert, da es einerseits deutlich macht, dass realistische Erkenntnisansätze durchaus nicht so diskreditiert sind, wie vor allem zeitgenössische „Life Sciences“ glauben machen wollen. Zum Anderen kann es Anthroposophen anregen, sich mit der realistischen Tradition auseinanderzusetzen, deren Teil Rudolf Steiner ist, und seinen Beitrag genauer herauszuarbeiten. Dabei könnten sich unerwartete Parallelen zeigen, zum Beispiel hinsichtlich der Idee eines nicht im Gehirn beschlossenen Bewusstseins („Umkreis-Ich“) oder einer interaktiven, körperlichen Form der Erkenntnis – Positionen, die zum Beispiel auch die moderne „Embodiment Philosophie“ nach Alva Noë vertritt. Einen Gewinn könnte es gerade auch für anthroposophische Ausdeutungen von Steiners gesellschaftlichen Ideen darstellen, bei denen der Wunsch zum Klassifizieren und Kategorisieren noch weit verbreitet ist, während ihre Erkenntnisgrundlagen kaum verstanden sind.

Die Wiedergewinnung des Realismus
von Charles Taylor und Hubert Dreyfus
Suhrkamp Verlag, 2016

ISBN 978-3-518-58685-3
29,90€


Diese Rezension erschien zuerst in der Zeitschrift „Anthroposophie“.

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