Modernen Industriegesellschaften gelingt es bis heute nicht, Spiritualität und Gesellschaft in ein gegenseitig fruchtbares Verhältnis zu bringen. Ob sie den iranischen Weg beschreiten, wo jeder politische Beschluss von einem geistlichen Wächterrat genehmigt werden muss, oder der pragmatische Deutschlands, einem der letzten Länder steuerfinanzierter organisierter Religion, oder den der französischen Laicité: es sind alles keine befriedrigenden Lösungen, wie die Tagespresse zeigt.
Dabei ruhen auch säkulare Staaten auf einem wenn auch meist verdeckten Fundament spiritueller Güter. Sie sind Grundlage unserer Gesellschaftsfähigkeit. Von unserem individuellen Vertrauen auf die Existenz der Liebe, die Sozialfähigkeit motiviert, über einen Grundkonsens der gesellschaftlichen Aufgabe des Schönen und Guten, unserem Streben nach Freiheit bis zu den unverrückbaren Werten im Recht oder den Sinn der Welt überhaupt: Es lässt sich glauben, dass Geist nur Ideologie ist, aber es lässt sich nicht damit leben, schreibt Rudolf Steiner einmal.
Die Unmöglichkeit des Verzichts eines Vertrauens auf ein Höheres hat die Schriftstellerin Simone Weil einmal dazu motiviert, in modernen Institutionen Surrogate unserer Sehnsucht zu sehen, das Göttliche in der Welt zu erleben. Der Kapitalismus spiegele in seinen Formen viele Strukturen religiöser Verehrung, zum Beispiel durch eine Kaste der Arbeiter, der Priester und der Heiligen. Das Geld ist sein „ontologisches Rückenmark“, das die Heilserfahrung herbeiführt, denn durch es vermittelt zieht eine geradezu übernatürliche Qualität in jene Dinge ein, mit denen wir uns umgeben.
So gesehen pervertiert Kapitalismus unsere Wahrnehmung des Göttlichen. Es stellt sich die Frage, ob es auch eine Möglichkeit gäbe, Spiritualität als gesellschaftstragende Kraft bewusst zu entwickeln, anstatt sie nur verstehend zu interpretieren. Für Simone Weil braucht es dafür eine „Politik des Sakraments“. Möglicherweise hätte Anthroposophie einiges zu dem Thema beizutragen.
Diese Kolumne über Gesellschaft erscheint monatlich als Teil des Newsletters der Sektion für Sozialwissenschaften, den ich als Redakteur verantworte. Er kann hier gelesen und abonniert werden.